Mit Dr. Hoffnung um die Welt Esperanto und die Geschichte seiner Unterdrückung

Neue Zürcher Zeitung FEUILLETON Samstag, 06.11.1999 Nr. 259 66

Die Gründer der Kunstsprache Esperanto träumten Ende des 19. Jahrhunderts von einer Welt ohne Kommunikationsprobleme. Sozialisten und Pazifisten hofften, Esperanto werde zum Medium der Befreiung und des Friedens. Dies machte die Sprache für rechtsgerichtete Regime und konservative Kulturpolitiker, aber auch für linke Parteidiktaturen gefährlich. Obwohl sich Englisch als Weltsprache durchgesetzt hat, gibt es heute weltweit drei Millionen Esperantisten.

Weil der jüdische Augenarzt Lazar Zamenhof im damals russischen Bialystok unter dem Hass zwischen Juden, Polen, Russen und Deutschen und dem «schweren Unglück der Sprachenvielfalt» litt, präsentierte er 1887 unter dem Pseudonym «Dr. Esperanto» («der Hoffende») das Projekt einer «Lingvo Internacia», einer «internationalen Sprache». Zunächst genehmigte die Zensur das «harmlose Kuriosum», bald aber überlegte sie es sich anders. Die Kunstsprache fand nämlich - vor allem bei verfolgten Minderheiten wie den Juden - wider Erwarten rasch Anhänger. Zamenhof konnte bald ein Verzeichnis von 1000 Esperantisten herausgeben. Zu viele potentielle Revolutionäre, fanden die russischen Behörden und verboten Esperanto-Veröffentlichungen. Als die seit 1889 in Nürnberg erscheinende Zeitschrift «La Esperantisto» einen Artikel von Tolstoi veröffentlichte, wurde auch deren Einfuhr verboten. Trotzdem machte die Sprache Fortschritte. 1905 trafen sich in Boulogne-sur-Mer 688 Esperantisten aus 30 Ländern zu ihrem ersten Weltkongress und stellten begeistert fest, dass Esperanto ähnlich schön klingt wie Italienisch. Shakespeare- oder Goethe-Übersetzungen erwiesen sich als durchaus befriedigend; der Einwand, das synthetische Esperanto sei keine «richtige» Sprache, war für seine Anhänger damit widerlegt.

«Kulturzerstörerisch»

Während sich in Frankreich einflussreiche Generäle und Wissenschafter für Esperanto stark machten, wurde es in Deutschland als «kulturzerstörerisch» verurteilt: «Der Deutsche, der Esperanto spricht, wird von seinem Volkstum gelockert.» Nur kleine «Natiönchen» würden von Esperanto profitieren, denn «es würde sie mit einem Schlag geschäftlich den Vertretern der heutigen grossen Welthandelssprachen gleichstellen». Die Deutschnationalen wüteten: Esperanto sei so verwerflich wie «die Friedensgesellschaften, die Frauenrechtlerinnen, kurz alle Mischmaschler».

Anders als der politisch neutrale, 1908 von Hector Hodler, dem Sohn des Malers Ferdinand Hodler, gegründete Esperanto-Weltbund «Universala Esperanto-Asocio» (UEA) sahen Pazifisten, Sozialisten und Anarchisten in Esperanto ein Mittel für den politischen Kampf. 1906 fand in Genf ein erstes Treffen «roter Esperantisten» statt, in dessen Folge auch unpolitische Anhänger der Sprache als «links» verfolgt wurden. In Ungarn wollte man die Arbeiter nicht eine Sprache lernen lassen, die die Arbeitgeber nicht verstünden. Dass Arbeiter nun ohne langes Studium mit Ausländern Kontakt aufnehmen könnten, stiess jedoch auch bei den Arbeiterparteien auf Skepsis. Die deutsche SPD-Führung zum Beispiel untersagte ihrer Parteizeitung «Vorwärts», über Esperanto zu berichten: Diese «bürgerliche Torheit» lenke bloss vom Klassenkampf ab.

Der Erste Weltkrieg, in dem sich auch die Esperantisten an der Kriegspropaganda beteiligten, war ein schwerer Rückschlag. Immerhin widerstand die UEA der nationalistischen Welle und organisierte von Genf aus Hilfsaktionen. Nach dem Krieg hofften die Esperantisten auf den Völkerbund. Dessen stellvertretender Generalsekretär, der Japaner Inzo Nitobe, meinte nach dem 13. UEA-Weltkongress: «Während die Reichen und Gebildeten sich an Literatur und wissenschaftlichen Abhandlungen im Original erfreuen, benutzen die Armen Esperanto als Lingua franca. Esperanto wird auf diese Weise ein Motor internationaler Demokratie.»

1920 forderten unter anderem Belgien, Italien, Chile, China, Südafrika, dass Esperanto an den Schulen unterrichtet werde. Daraufhin sah Frankreich die internationale Stellung des Französischen bedroht. Es verbot Esperantisten die Einreise und untersagte den Schulunterricht und den Gebrauch der Sprache bei offiziellen Veranstaltungen: «Das Französische wird immer die Sprache der Zivilisation sein und der Expansion französischen Denkens dienen», so Unterrichtsminister Léon Bérard. Auch der bulgarische Erziehungsminister bekämpfte den Esperanto-Unterricht: «Da Esperanto eine leichte Sprache ist, würden sich die Schüler an das Leichte gewöhnen und den Willen verlieren, schwierigere Dinge zu lernen; da Esperanto international ist, würden sie am Internationalismus Gefallen finden und die nationale Sprache und Kultur zu verachten beginnen; schliesslich steht die Esperanto-Bewegung unter dem Verdacht, dass sich hinter ihr Bolschewisten und Anarchisten verbergen.»

In der «Kommission für geistige Zusammenarbeit» des Völkerbunds befanden elitäre Intellektuelle, die «Volksmassen» hätten keinen Bedarf an internationaler Verständigung. Sie träten über ihre «Führer» in Kontakt. Esperanto bedrohe zudem die Arbeitsplätze von Dolmetschern und Lehrern. Vor allem der Schweizer Professor Gonzague de Reynold kämpfte im Völkerbund gegen den «internationalistischen und revolutionären Mystizismus», der sich hinter Esperanto verberge.

Nazihetze

Die Weltwirtschaftskrise beendete die erste Globalisierung. In Deutschland hetzten die Nazis gegen die «hemmungslos pazifistische Einheitssprache für alle Rassen». Nach der Machtergreifung schalteten sie linksgerichtete Esperanto-Verbände aus und warfen viele ihrer 6000 Mitglieder ins KZ. Der «bürgerliche» Deutsche Esperanto- Bund biederte sich mit dem Ausschluss von «Nichtariern» und der Verbreitung von Hitler- Reden an. 1936 musste er sich dennoch auflösen. Radiosendungen und Unterricht waren untersagt, doch offiziell wurde die «Sprache des Weltjudentums» (Hitler) nie verboten. Als der Schweizer Journalist Hans Unger 1938 in Berlin verhaftet wurde, erklärte ihm Führerstellvertreter Rudolf Hess persönlich, für das deutsch beherrschte Europa der Zukunft sei ein vereinfachtes Deutsch geplant. Für Esperanto gebe es folglich keinen Bedarf. In Osteuropa, wo alle Juden und Intellektuellen ausgerottet werden sollten, hatten Esperantisten kaum Überlebenschancen. Die Familie Zamenhof gehörte zu den ersten Opfern.

Andere rechte Regime folgten dem Beispiel der Nazis. In Spanien kämpfte Franco gegen «Sekten, Freimaurer und Esperantisten». Erst ab 1951 erlaubte der Generalissimus wieder Kurse. In Portugal löste Salazar 1936 alle Esperanto-Gruppen auf. Das Verbot galt bis 1972. Hoffnungsvoller sah die Zukunft des Esperanto als «Sprache des Weltproletariats» aus: 1917 veröffentlichte die Sowjetpresse Briefe von Esperantisten aus aller Welt. Die «Posto USSR» druckte 1925 die erste Briefmarke mit Esperanto-Text. Lew Kopelew erinnert sich an die Korrespondenz seines Esperanto-Lehrers: «Mir stockte das Herz beim Anblick der Umschläge mit Briefmarken aus Australien, Japan, den USA, Argentinien (. . .) Die Zukunft erschien mir klar: Die Menschen aller Länder würden einander verstehen.» Schnell erkannte das kommunistische Regime jedoch: «Individuelle Korrespondenz ist sehr schwer kalkulierbar.» Ausländische Esperantisten stellen lästige Fragen, und die heimischen «verbreiten lügnerische Berichte über angebliche Krisen in der Sowjetunion, über eine angeblich grausame Behandlung politischer Gefangener».

Zunächst mussten die Esperantisten ihren Briefen eine Broschüre mit dem Titel «Die Wahrheit über die Sowjetunion» beilegen. 1937 wurde die Auslöschung der «kosmopolitischen Sprache» beschlossen. Der Schauspieler Nikolai Rytjkow zum Beispiel wurde als Mitglied einer «internationalen Spionageorganisation, die sich als Vereinigung sowjetischer Esperantisten in der UdSSR verborgen hat», angeklagt. Das Urteil: acht Jahre Lager, danach Sibirien. Stalin hatte Briefmarkensammler und Esperantisten auf die Liste «antisowjetischer Elemente» gesetzt. Auch die Satellitenstaaten wurden auf Linie gebracht: Die DDR etwa verbot Esperanto 1949.

Tapferes Überleben

Erst nach Stalins Tod wurde Esperanto wieder geduldet. Die Sowjets protestierten nicht, als die Unesco der UEA 1954 Berater-Status einräumte. Die DDR hob 1961 ihr Verbot auf. Sowjetische Esperantisten durften wieder den jährlichen Weltkongress besuchen. Als eine der raren Möglichkeiten für Auslandskontakte wurde Esperanto sogar recht populär. 1980 gaben in China 400 000 Menschen an, Esperanto zu sprechen. Weltweit sind es heute nach Schätzungen der Unesco drei Millionen

Trotz dem Triumph des Englischen hält sich Esperanto heute tapfer. In einigen Ländern wird es als reguläres Schulfach angeboten, in Ungarn gibt es das Studienfach «Esperantologie». Wer will, kann sogar seine Doktorarbeit auf esperanto schreiben - in der Internationalen Akademie der Wissenschaften in San Marino. 1993 erkannte der internationale PEN die Sprache an. Mit Bill Auld wurde erstmals ein Esperantist für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Und selbst wenn das Angelsächsische siegt, ist noch nicht aller Tage Abend: Auf Hawaii werden Kinder mit Esperanto als «Hilfsfremdsprache» auf den Englischunterricht vorbereitet. Ähnliche Versuche waren auch in der Schweiz schon erfolgreich.

Die Esperantisten blicken daher optimistisch in die Zukunft. Die Sänger der deutschen Hip-Hop- Band «Freundeskreis», deren CD «Esperanto» diesen Sommer in die Charts kam, versichern jedenfalls: «Esperanto ist die Sprache der Liebe, die nach und nach alle sprechen werden. Das ist erst der Anfang. Wir glauben an Esperanto.»

Martin Ebner

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